Dienstag, 29. Juni 2010

Kapitel 2 "Ohne Liebe"

Tränen die kurz, viel zu kurz, versiegten steigen wieder in mir auf. Ich komme mir vor, wie im falschen Film und will einfach nur schreien, zetern und loswerden, was mir seit einem Jahr auf der Seele brennt.
Natürlich glaubt sie ihrem widerlichen, dreckigen Sohn. 'Dein kleiner Junge ist ein mieser Vegewaltiger!' krächzt es immer wieder in mir auf, aber ich schaffe es nicht, auch nur einen Ton rauszupressen. So gern ich es jetzt auch wollte.





"Hast du mich nicht gehört?!" krakeelt sie mich an. Plötzlich hält sie inne und sieht mich, mit Ekel in den Augen, genauer an.
Mein Körper ist übersäht mit Blutergüssen, zum Teil ist meine Haut aufgerissen und Blutet auf das cremefarbene Laken.
Meine angeheiratete Mutter setzt eine unergründliche Miene auf: "Zieh dich an, dein Vater ist bestimmt gleich da."

An einem Ohr schleift sie ihren Bastard aus dem Zimmer und er wirft mir noch einen Luftkuss zu. Fall tot um. Jetzt. SOFORT.
Weinend entkrampfe ich und sinke in die Bettwäsche. Nichts ist vorbei, denke ich und krieche aus dem Bett. Nun folgt, was jeden Tag an diesem Punkt getan werden muss: Duschen. Den Schmutz abwaschen und am Besten meine Haut noch dazu.
Wie besessen rubbel ich mit meiner Lieblingsseife über meine geschundenen Hautpartien und hoffe, dass das Brennen und stechen ein gutes Zeichen der Desinfektion sind.

Während ich in Gedanken meiner Reinigung nachgehe pocht es hektisch an der Badezimmertür.
"Carol, beeil dich, dein Vater ist unten mit der Torte und fragt sich, wo du bleibst. Mach schnell, ja?"
Pff. Wie freundlich sie klingen kann, wenn ihr über alles geliebtes Kind so eine Scheiße baut... Wird eh nichts nützen. Er denkt bestimmt, dass ich mich nun in Sicherheit wiege - Würde zu seinem beschränkten Denken passen - aber so wie ich ihn einschätze wird er mit noch mehr Rafinesse ans Werk gehen. Jippie.

Mit neuer Kleidung - einem schwarzen Kleid mit schöner Spitze am V-Ausschnitt - und vollends fertig öffne ich die Tür. Wer hätte das gedacht? Nathan steht vor mir und lächelt, als hätte er etwas ganz besonderes geplant. So viel ist sicher; er ist für mich was Besonderes. Ein besonders ekelerregendes Stück Scheiße. Nicht mehr und nicht weniger und einen höheren Stand will er wohl auch nicht bei mir einnehmen.
Er ist ein schöner Mann, ohne Frage - nur in meinen Augen existiert keine Schönheit mehr. Überall wo ich hinsehe sehe ich Dreck, Ekel, Scheiße. Hässliche Dinge.
"Mutter hat dich zur verbotenen Frucht erklärt", sagt er süffisant.
Ohne einen weiteren Kommentar schlendert er davon, die Treppe hinab.
Fuck.
Er weiß wirklich wie man Welten zerstört. Zitternd stehe ich da und seine Worte hallen in meinem Kopf wie ein ewiges Echo. Mir bleibt die Luft weg und ich fuchtel wild mit meinen Armen, sodass die langen, schwarzen Trompetenärmel wie Flaggen im Wind wehen.
Ich falle zu Boden. Weine. Und als ich zur Treppe blicke mit meinen verheulten Augen, sehe ich Nathan locker am Geländer lehnen.
"Und du weißt ja, die verbotenen Früchte sind die Süßesten."

'Ich frag mich wann ist es soweit? Wann ist er Vergangenheit? Wann räumt die Erinnerung das Feld? Wann verschwindet er aus meiner Welt?' ["Ich will seinen Kopf" von Janus]

Nochmals rappele ich mich auf und torkel durch die Küche und gehe weiter bis vor die Tür vom Esszimmer. Einmal tief durchatmen und beste Schauspielkunst rauskramen. 21, 22, 23 ... Lächeln. Jetzt. Gut, klappt doch schon mal prima. Ich trete ein.
Warum holen mich nun dauernd Zitate aus Liedern ein? Konzentrier dich, du bist nicht fokussiert. Vater gratuliert mit einem herzlichen Lächeln, was ich verbissen versuche zu erwidern.
Die Torte sieht sogar sehr lecker aus. Irgendwas mit Buttercreme, ich habe es wieder vergessen. Warum starrt Nathan mich so an? Und was hat er da in der Hand?

"Hier kleine Schwester", haucht er betont sanft. "Ich weiß nicht, ob du sowas überhaupt magst, aber ich hoffe, es gefällt dir."
Wenn dein Kopf in dieser kleinen Schachtel steckt, dann ja, dann werde ich es mögen. Nein, streiche das wort 'mögen', ich würde es lieben.
Der Tremor hört einfach nicht auf, verlegen erkläre ich, dass ich nervös sei und kein Geschenk von ihm erwartet hätte. Vater glaubt es. Ich sollte wirklich Schauspielerin werden.
Mit schwitzenden Händen nehme ich den Deckel der Schachtel ab und entdecke eine kleine Figur darin. Eine Art Schlüsselanhänger, schätze ich. Sieht sogar wirklich niedlich aus. Eine kleine, rote Puppe mit einem schwarzen Herzen auf der Brust. Und winzige Knopfaugen hat er auch noch.
Ehrlich bedanke ich mich für das unerwartete Präsent.
"Vergiss nicht, das Schildchen zu lesen, was daran baumelt", sagt Vater zu mir und er springt abrubt auf, "Huch! Da vibriert mein Handy, ich muss kurz rangehen, Kleines."
Schnell gibt er mir einen Kuss auf die linke Wange und verschwindet raus zur Terassentür.

Eine Miniaturkarte hängt an dem süßen Fratz. Auf dieser steht vorne "Vodoo Doll". Mich überkommt ein mieses, nein, ein so richtig mieses Gefühl.
Ich klappe die Karte auf.

"Puppet girl your strings are mine!" ["Feel for you" von Nightwish]

Ein Schrei entfährt mir und Vater schnellt zu uns herein. Meine Stiefmutter linst lediglich vom TV zu uns herüber, aber schert sich nicht weiter. Deine Probleme hätte ich auch nicht gerne, 'Mutter'.
"Alles in Ordnung, Carol?" Das Gesicht meines Vaters zeigt große Besorgnis. Zeit für eine weitere Schauspieleinlage.
"Wow, das Geschenk gefällt mir wirklich, Nathan! Es ist...perfekt, wie für mich gemacht", kreische ich breit lächelnd.
Nathan blickt überrascht drein. Fasst sich aber schnell wieder und breitet seine Arme aus. "Das ist wohl eine Umarmung wert, was Schwesterchen?"
Das ist ein Mord wert, du ... Mir fällt nicht mal mehr eine Beschreibung für dich ein. Des perfekten Akts wegen stürze ich mich in seine Arme und er packt mich extra fest an den verletzten Körperteilen.
Er flüstert mir die klischeehaftesten Sprüche ins Ohr, ich wäre Sein, hätte kein eigenes Leben mehr, denn das gehöre folglich ihm.

Ich will nicht mehr das Opfer sein. Ich will nicht mehr weinen. Und vor allem will ich, dass er aus meinem Leben verschwindet.
Denn er hat Recht: Ich besitze keine Kontrolle mehr über mein Leben, er hält die Fäden des Puppenmädchens komplett in der Hand, sodass ich mich winde und biege, wie er es gerne hätte.

"Dolores, sieh doch mal. Wer hätte gedacht, dass unsere Kinder mal so gut miteinander auskommen? Ja, fast wie Blutsverwandte!" Freudig zeigt Dad auf uns, wie wir fest umschlungen dastehen.
"Ja Schatz, scheint, als hätte mein Sohn an deiner Tochter einen Narren gefressen", sagt sie gekonnt unbetont.

Und wieder einmal durchfährt mich ein Lied wie ein Blitz;

"Er hat sie berührt!
Ohne Liebe sie verführt!
Er hat sie berührt!
Ohne Liebe sie verführt!"

["Ohne Liebe" von Subway to Sally]

Nochmals beginne ich zu weinen. Da senkt er seinen Kopf, legt seine Lippen wieder einmal an mein Ohr und sagt: "Ach ja, rieche ich nicht gut? Ich wasche mich neuerdings mit deiner Seife, davon wird man po-ren-tief-rein."
Ich löse mich aus seinem Griff und starre ihn fassungslos an. Sein Gesicht grinst breiter als jemals zuvor. Das schrecklichste Lächeln der Welt, die tödlichste Geste auf dem Erdenrund.

Wieder einmal hat er seine zerstörerische Kraft bewiesen. Er weicht die ganze Nacht nicht mehr von meiner Seite, masakriert mich, demütigt mich.
Warum will mich niemand retten? Wahrlich, ich habe genug gelitten, denkst du nicht auch? Nathan!

Gegen 6 Uhr morgens lässt er von mir ab, küsst meine Stirn. Die aufgehende Sonne färbt seine grünen Bastardaugen in karamellfarbenes Bernstein.

"Ich liebe dich, Carol. Wirklich."

Nathan schleicht sich davon um gemütlich ein- bzw. auszuschlafen. Ich hingegen stehe auf, dusche nur mit Wasser und Shampoo und gehe mir eine halbe Toastbrotscheibe runterwürgen wie jeden Morgen.
Zumindest habe ich in der Schule meine Ruhe. Hoffe ich.

4 Kommentare:

  1. Tolle Fortsetzung zum ersten Kapitel. Finds immer noch toll wie du schreibst. :)Ich hoffe aber inständig, dass deine Geschichte ein Happy End hat. Ein blutiges. Zerstörendes. Nathan hätte es verdient. ;)

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  2. Hehe, ich bin kein Fan von Happy Ends, aber ich stimme dir zu, Nathan hätte es mehr als verdient, wenn er zerstückelt im Wald landet oder so XD

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  3. Wieder einmal sitze ich vor deinem Eintrag (den ich eigentlich gestern schon gelesen haben wollte) und kann mich nicht lösen. O.o

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